Die Schlange ist aus Gottes großem Zoo entwischt
Mit Kundalini Rising kommt etwas Bedeutsames auf uns zugeschlichen. "Wie eine zischelnde Kobra, die sich langsam aus dem Schatten entwindet", beschreibt das Duo, bestehend aus Band-Gründervater Mika Goedrijk und dem 2010 eingestiegenen Karolus Lerocq, die Wahrnehmung seines neunten Studioalbums.
Die Arbeit an Kundalini Rising markiert für This Morn' Omina den Aufbruch in neue, noch abwechslungsreichere musikalische und spirituelle Gefilde. Mit dem Erscheinen ihres letzten Albums L'Unification Des Forces Opposantes war 2011 ihre über einen Zeitraum von acht Jahren entstandene Nyan Trilogie abgeschlossen und es wurde Zeit für neue Mythen und Visionen.
Die Namensgeberin Kundalini, was in Sanskrit soviel wie die Schlangenkraft bedeutet, beschreibt der tantrischen Lehre zufolge die jedem Menschen in Form einer in sich gewundenen Schlange am unteren Ende der Wirbelsäule innewohnende spirituelle Kraft, die durch das Verinnerlichen yogischer Praktiken erweckt und zum Aufstieg gebracht werden könne. Gelinge dieser Prozess vollständig, gehe die Schlange eine Vereinigung mit der kosmischen Seele ein, was dem Menschen zur Erlangung höchster Glückseligkeit und Erleuchtung verhelfen soll.
Verfolgt man die Tradition von TMO, deren Veröffentlichungen oftmals einen thematischen Leitfaden beinhalten, z.B. das Thema der Wiedergeburt bei L'Unification Des Forces Opposantes, liegt es nahe, Kundalini Rising mit Überlegungen zur Apokalypse oder Vorboten derselben in Verbindung zu bringen - aber zugleich auch mit den Möglichkeiten, dieser durch die Aktivierung individueller Widerstandskräfte oder dem Einsatz von Vernunft gewissermaßen entkommen oder entgegenwirken zu können.
Die im eindrucksvoll gestalteten limitierten Artbook enthaltenen Liner Notes liefern eine detaillierte Beschreibung der verschiedensten Mythen, denen die Tracks auf Kundalini Rising zugrunde liegen. Hier findet sich ein spiritueller Mix aus heidnischen Bräuchen, Legenden der Hopi, der Kelten oder Lehren des Shikismus, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn man diesen Faden der Dualität weiterspinnen möchte, findet sich dieser nicht nur in Bezug auf die inhaltliche Inspiration, die sich jenen Mythen entnehmen lässt. Am offenkundigsten dürfte die musikalische "Zweiheit", die TMO mit Kundalini Rising vorlegen, zu erkennen sein - das Doppelalbum umfasst zwei sehr unterschiedlich konzipierte Disks.
Nicht ganz unbedeutend ist zunächst die Neuerung, dass TMO erstmals auf zwei Tracks auch gesungene Lyrics eingespielt haben. Mit Ayahuasca, einem treibenden clubtauglichen Opening Track, wohl nicht ganz zufällig nach einem Gewächs mit psychotroper Wirkung benannt, das von indigenen Völkern im Rahmen von Reinigungszeremonien konsumiert wird, liefern TMO den Initiationsritus, mit dem der Hörer in Kundalini Rising eingeführt wird. Die erste Disk liefert einen extatischen Sound zwischen Tribal-Industrial, Goa und EBM. Könnte man das Flackern eines Stroboskops akustisch abbilden, müsste man für einen Track wie Tir Nan Og eine Epilepsiewarnung aussprechen.
Während die erste Disk extatisch und treibend auflädt, schlägt die zweite eine Stimmung an, die sich mit dem erwähnten Apokalypse-Thema akustisch eindeutig besser identifizieren lässt. Der großartige zweite Opener God's Zoo scheint sich bedrohlich, eben schlangengleich, immer tiefer in den Gehörgang zu winden. Der Sound wird deutlich schleppender und abgründiger, dabei aber nicht weniger eindringlich.